Ausstieg und Erwachen 1

„Nimm lieber ein glänzendes Gloss. Und eher was in Richtung Orange, das beißt sich dann so schön mit der pinken Leopardenhose. Das sieht dann noch g’scheader aus“, trug der Regisseur der Maskenbildnerin auf.

Als dieser Satz fiel, saß ich im Masken-Caravan, bereits fast bis zur Unkenntlichkeit geschminkt, deutlich dunkler als meine natürliche Hautfarbe und eher… indezent, Teil der Vorbereitung für meine Dreitagesrolle als Prostituierte in einer süddeutschen Kriminalserie fürs Fernsehen.

Das war der Moment.

Ich sah mich im Spiegel während seiner Anweisung und plötzlich war da eine Frage in meinem Kopf, laut und deutlich: „Was mache ich hier eigentlich?“

Da saß ich, nach zwölf Jahren in einem, meinem Traumberuf, gekleidet in einen pink-schwarz gefleckten Catsuit aus Polyester, dazu einen quietschgrünen Bolero, nicht dazu passenden billigen Plateauschuhen und einer roten abgewetzten Plastikhandtasche, wissend, dass ich gleich eine nicht allzu intelligenzgesegnete Bordsteinschwalbe zu verkörpern hatte und das möglichst g’schead, wie der Regisseur das ja bereits verlauten ließ. „G’schead“ ist bayrisch und heißt so viel wie gemein, fies, derb, ordinär.

Ich leihe hier mein Gesicht, meinen Körper, mein Bewusstsein, mein Können einer Frauenfantasie und das möglichst so lebendig und natürlich, dass das herabwürdigende Klischee der Rolle gar nicht auffällt.

Privat beschäftigte ich mich gerade mit Göttinenforschung und dem Übergang von Matriarchat zu Patriarchat, dem einige Jahrhunderte später die Geburt des Theaters folgen sollte.

Das bedeutet, dass dieses Klischee, dieses Frauenbild mit meiner Mithilfe Millionen deutscher Wohnzimmer füllt.

Damit war es rum. Das war der sogenannte „point of no return“, der Punkt ohne Wiederkehr.

Das war mein „äußeres Erwachen“. Ich glaube, aus Erfahrung mit inzwischen Tausenden von Klienten und Klientinnen, aber auch aus privaten Gesprächen und Artikeln, Büchern und Social Media Posts, dass es zwei Formen des Erwachens gibt.

Das eine das äußere, gesellschaftliche, weltliche und systemische.

Das andere ist das innere, individuelle, intim-private und metaphysische Erwachen.

Das äußere Erwachen kann, wie bei mir, in einem beruflichen Umfeld stattfinden. Aber auch das Lesen der Inhaltsstoffe auf einer Lebensmittelpackung kann es hervorrufen. Oder das erneute Gespräch mit der Klassenlehrerin.

Es ist der Moment, an dem sich aus dem eigenen Inneren plötzlich eine bisher unbekannte Stimme meldet und die bisher nicht hinterfragte Normalität in Frage stellt: die Welt, meine Welt, das Leben, wie es eben so ist. Ein Leben, auf das wir von klein auf erzogen und vorbereitet werden und das sich insofern stimmig anfühlt, als sich ja alle darin ähnlich bewegen.

Bis, ja, bis eben plötzlich so eine Frage auftaucht. Die dazu einlädt, sich damit zu beschäftigen, ob das eigene Leben zu einem, einer passt. Will ich so leben? Will ich das für normal halten? Und warum halte ich es für normal? Muss das so sein? Warum ist es so? Gibt es etwas, das ich statt dessen will?

David Graeber legte in seinem Buch „Bullshit-Jobs“ dar, dass etwas 40% aller Tätigkeiten in unseren westlichen Systemen vollkommen nutzlos, aber dafür gut bezahlt seien. Dass aber die gute Bezahlung eines Menschen Bedürfnis nach Sinn und der daraus folgenden Erfüllung nicht kompensieren oder ersetzen kann.

In ihrem weltweit bekannt gewordenen Buch „Fünf Dinge, die Sterbende bedauern“ erzählt die australische Palliativkrankenschwester Bonnie Ware von den Gesprächen, die sie mit Menschen in den letzten Momenten ihres Lebens geführt hat. „Hätte ich nur nicht so viel gearbeitet“, „Hätte ich mir nur mehr Glücklichsein erlaubt!“ und „Hätte ich nur den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu führen!“ sind drei der Klassiker.

„Arbeitszeit ist Lebenszeit“ habe ich oft zu Klienten und Klientinnen gesagt. Leben lässt sich nicht aufschieben. Wer der eigenen Ratio erlaubt, dabei zu bleiben, „fürs Geld“ oder was immer der Grund ist, gewöhnt sich an ein Leben „um zu“: Ich muss dieses und jenes tun, um zu überleben, meine Familie durchzubringen, das Haus abzubezahlen, Karriere zu machen. Und damit an die Normalität eines unerfüllten, fremdbestimmten Lebens.

Aber, wie oben erwähnt: es muss gar nicht Arbeit sein. Die Liste der Inhaltsstoffe eines Lebensmittels könnte plötzlich die Frage aufwerfen, wieso es eigentlich normal ist, den eigenen Körper mit so viel Chemie zu füttern. Oder warum Schule den hochbegabten, kreativen Sohn mit individuellem Lernrhythmus und -verhalten zu einer Anpassung zwingt, die ihn seine Begeisterung verlieren lässt und sich auf eine Weise selbst fremd macht, die zu bezeugen zutiefst schmerzhaft ist für den Elternteil.

Entscheidend ist der Umgang mit einem Moment wie diesem. Viele Menschen wischen ihn weg, lassen die innere Stimme gegen die Stimme der Vernunft antreten und verlieren, und das so oft, bis sie sich eben erst auf dem Sterbebett wieder meldet – wenn es nichts mehr zu verlieren und nichts mehr zu verteidigen gibt.

Das sogenannte innere Erwachen kann, aber muss nicht, in Meditation geschehen. Oft ist es eine mystische Erfahrung, die plötzlich und unwiderruflich klar macht: Ich bin nicht mein Körper. Was ich bin, ist deutlich größer als meine Persönlichkeit, nonlokal und allverbunden. Größer als das Produkt meiner Prägungen, als die gesellschaftlichen Rollen, Funktionen und Identitäten, die ich innehabe. Und größer als meine Gedanken und Emotionen.
Oder das Herz öffnet sich plötzlich und flutet den Körper mit einer Liebe, die mit nichts aus dem bisherigen Leben vergleichbar ist, die sich aber gleichzeitig urvertraut anfühlt und fürderhin verbietet, etwas vorzugeben und zu tun, was dieser Liebe nicht entspricht.

Beide Formen bedingen und befördern einander. Wenn man den Mut hat, sich dieser Stimme zu stellen, ihr zu vertrauen und neugierig ihren Vorschlägen zu folgen. Und es bleibt ein lebenslanges Vergnügen, immer weiter und tiefer in die eigene erfüllende Existenz hinein zu wachsen.

Ich werde mich in diesem Buch dazu noch mehrfach und detaillierter äußern.

Wie bin ich selbst damit umgegangen?

Um ehrlich zu sein: An den Rest des Drehs erinnere ich mich heute nicht mehr.

Ich war damals nicht mutig und vielleicht auch noch nicht klar genug, als sogenannte freischaffende Schauspielerin, dazu noch zu sehr angewiesen auf das Geld, um direkt aufzustehen und zu gehen. Eine Klages des Senders hätte mich zudem vermutlich ruiniert.

Aber es war genau dieser Moment, der meinen Ausstieg begründete, der dann wenig später tatsächlich stattfand. Als wolle mir das Leben diese Wahl erleichtern, hatte ich im selben Jahr ausschließlich Prostituierte und Nonnen zu spielen – durch gesellschaftliche Moral fragmentierte weibliche Lebensentwürfe.

Was mir ab diesem Moment nicht mehr möglich war: Befriedigung aus dem Verkleiden, dem Schlüpfen in und Verkörpern von verschiedene|n Figuren zu sein, also lediglich „Medium“, das dem Autor, der Autorin, dem Regisseur, der Regisseurin als Leinwand dient.

„Sendungsbewusste“ Schauspieler|innen werden nicht so gerne gesehen, also Schauspieler|innen, die die Rolle nutzen als Leinwand für ein persönliches Anliegen.

Ab diesem Moment galt ich als „schwierig“. In Wahrheit war ich nur aus diesem Beruf herausgewachsen. Und mir selbst näher gekommen.

Mit Erwachen ist übrigens noch nicht die Unzufriedenheit gemeint, die nach dem nächsten Partner, einer anderen Stadt, der nächsthöheren Karrierestufe, einem neuen Spielzeug, oder einem anderen Job suchen lässt. Darin liegt immer noch die Illusion, dass es etwas „da draußen“ gibt, das „es“ ist.

Wenn alle äußeren Wege immer schneller zur immer gleichen – oder heftigeren – Unzufriedenheit führen, wird klar, dass es nur eines gibt, das alle neuen Jobs, neuen Partner, nächsten Spielzeuge oder höheren Karrierestufen gemeinsam haben: Die eigene Person mit ihren Spannungszuständen, den diffusen Ängsten, dem Druck, der Langeweile.

Damit ist die Zeit für die wesentlichen Frage gekommen: Warum bin ich hier? Wer bin ich eigentlich? Wie sieht ein Leben aus, das zu mir passt, mich widerspiegelt und erfüllt?

____

Erst dann bist du wirklich bereit für diesen intensiven, tiefgreifenden Wandlungs-Prozess.

Dieser verbindet dich nämlich auf unumkehrbare Weise mit dir selbst. Und er schenkt dir ein Verständnis von dir selbst, das dir falsche Kompromisse, Oberflächlichkeit und entseelte Tätigkeiten, auch für viel Geld, nicht länger gestattet.

Du tauscht Anerkennung für Erfüllung, Prestige für Sinn, Kontrolle für Fühlen, Wachstum und Lebendigkeit, sowie (falsche) Sicherheit für eine wahrhaftige Zukunft.

Damit wirst du zunehmend „kongruent“. Das bedeutet, es gibt in dir ein wachsendes Bedürfnis, alles in deinem Leben aus einem Guss sein zu lassen, so dass dein Gelderwerb, wie du dich kleidest, wie du wohnst, mit wem du wie Beziehung lebst und pflegst und wie du dich ernährst, aus einem Guss ist und durchgängig deine Werte widerspiegelt.

Du lebst mehr und mehr von innen nach außen und nicht länger von außen nach innen.

Du gestaltest. Und gehst auf Ereignisse ein. Aber du reagierst zunehmend weniger. Die Erwartungen der Welt, der anderen, spielen eine immer geringere Rolle. Bis du eines Tages auch nicht mehr über die scheinbare Bedrohung deiner Existenz zurückzuholen bist, da dir die Erfüllung dieser bewusst gestaltenden und gestalteten Selbstverbindung so viel bedeutet, dass sie zu erhalten dir wichtiger wird, als Existenzangst in Schach zu halten, ganz gleich wie stark diese stimuliert wird. Ab diesem Moment bist du vollkommen frei, systemisch oder gesellschaftlich nicht länger erpressbar oder bestechlich. Auf dem Weg dorthin hast du ausreichend Beweise dafür gesammelt (erlebt!), dass du gar nicht „wettbewerbsfähig“ sein musst, um gut, erfolgreich und erfüllt zu leben. Und dass deine Werte und deine Vision dich tragen.

Dass du bis dahin einige „Tests“ zu bestehen hast, steht auf einem anderen Blatt.

Dieses Buch richtet sich an Menschen, die entweder ein inneres oder äußeres Erwachen vollzogen haben – oder sich mitten in einem von beiden finden. Die sowohl nach Orientierung für ihr tiefes emotionales, seelisches, mentales Unwohlsein suchen, als auch nach einem klaren Weg und konkreten Werkzeugen, um ihr „Aber was dann? Was statt dessen? Wer bin ich denn jetzt und wie soll es weitergehen?“ befriedigend beantworten zu können. Und damit im Anschluss ihre „PS“ deutlich erfüllter, sinnhafter, selbstverbundener und wahrhaftiger erneut auf die Straße bringen.

_________________
Dies ist das aktuelle Vorwort zum Buch “Find your Mission”, an dem ich unter anderem gerade schreibe.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *